Digitalisierung. Industrie 4.0. „Irgendetwas kommt, aber was?“ „Wissen wir auch nicht.“ Professor Andreas Pufall erinnert sich an ein Gespräch mit einem Unternehmer. Vor sechs Jahren war das. Damals war der Professor für Produktionstechnik und Optimierung ratlos, „und das kratzt am Selbstverständnis als Wissenschaftler“. Jetzt weiß er Rat. Pufall hat sich mit seinem Team und Studierenden der Hochschule Ravensburg-Weingarten (RWU) überlegt, wie man Unternehmen auf dem Weg zur Digitalisierung berät und begleitet. Dazu gehört eine Menge Theorie, aber auch viel Praxis, und an der sind Pufall, der selbst schon in der Industrie gearbeitet hat, und seine Studierenden gerne nah dran.
Wie eine Lego-Bauanleitung
Der Sensor-Hersteller IFM hat Pufall und sein Team schon vor Jahren rangelassen, in den Tettnanger Werkshallen haben die Studierenden zusammen mit den IFM-Digitalisierungsexperten um Hauptabteilungsleiter Produktion Bernd Hausler die Produktionsprozesse analysiert und digitalisiert. Mittlerweile liefert das werkseigene fahrerlose Transportsystem zuverlässig Material an die Arbeitsplätze und fertige Sensoren zur Verpackungslinie. Digitalisiert ist aber nicht nur der Transport, auch die Montage. Immer noch werden die Sensoren von Hand zusammengebaut, neben den verschiedenen Sensoren gibt es auch die Sensormodelle mitunter in zig verschiedenen Versionen, die sich oft nur im Detail unterscheiden. Sensoren von IFM finden sich in Rolltreppen, Aufzügen, Skiliften oder Melkmaschinen. Manchmal ist der Winkel zur Montage rechts, manchmal links. „Einige Produkte bauen wir jeden Tag, manche nur zwanzigmal im Jahr“, sagt Hausler. Wenn der Sensor, der nur selten bestellt wird, früher auf den Montagetisch kam, ging das große Blättern los. Irgendwo im dicken Papier-Montagekatalog war dokumentiert, wie genau der spezielle Sensor zusammengebaut wird. Heute genügen ein paar Klicks auf dem Monitor, und schon zeigt das hauseigene Montageprogramm „ifm-mate“, mit welchen Teilen der Arbeitsplatz eingerichtet und wie der seltene Sensor zusammengebaut wird – so ähnlich wie eine Lego-Bauanleitung. Auf dem Monitor über dem Arbeitsplatz wird gezeigt, welches Teil zuerst wie in die Hand genommen wird und was als nächstes drankommt. Landet die Hand im falschen Fach, leuchtet die rote Warnlampe, auch wenn ein Teil falsch montiert wird. Fehler sind fast ausgeschlossen. Auch die Controller hat das überzeugt, sagt Hausler. Langes Blättern im Papierkatalog kostet Zeit und Geld, auf dem Monitor geht das alles viel schneller.
Nach Studium Projektleiterin
Vieles, was in Tettnang zu sehen ist, wurde mit Hilfe der Experten und Studierenden der HRW entwickelt. Auch Sonja Reiter war früher Studentin an der RWU, heute ist sie bei IFM Projektleiterin Digitalisierung. Papier und Zeit wird nicht nur am Montageplatz gespart. „Früher brauchten wir pro Auftrag 20 bis 30 Seiten Papier, heute noch eine“, sagt sie. Papiereinsparung pro Jahr: rund 1 Millionen Blatt. Das ist die hohe Kunst bei der Digitalisierung: die passenden Anwendungsfälle finden. Damit tun sich viele Unternehmen, anders als IFM, schwer, sagt Andreas Bildstein, Leiter der Forschungsgruppe Umsetzungsmethoden für die Digitale Produktion am Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA. Ähnlich wie die Experten der RWU um Andreas Pufall haben die Wissenschaftler am IPA ein „Tool“ entwickelt, mit dem Unternehmen analysiert und Anwendungsfälle gefunden werden können. Sind diese gefunden, müssen sie in die richtige Reihenfolge gebracht und abgearbeitet werden. Ein großes Problem bleibt aber: Wer soll das umsetzen? „Wir erleben in den letzten Jahren einen Fachkräftemangel im IT-Bereich. Es gibt zwar in vielen Unternehmen eine IT-Abteilung, die sich um die Systeme kümmert, der aber die Manpower fehlt, die Prozessstrategie weiterzuentwickeln“, sagt Bildstein. Der Fraunhofer-Experte sieht „gute Möglichkeiten für Hochschulen, passende Ausbildungsgänge anzubieten“. Allerdings sei der Prozess langwierig. Wer heute an der Hochschule anfängt, ist erst in ein paar Jahren fertig, „das Problem der fehlenden Fachkräfte ist aber schon jetzt fünf Jahre alt“. Zudem müsse die Hochschulausbildung angepasst werden, duale Hochschulen sieht er hier besser aufgestellt, auch wegen der Nähe zu Unternehmen. So wie die RWU, die mit ihrem Masterstudiengang Technik-Management und Optimierung (TMO) schon länger mit Erfolg auf genau die Lücke, die Bildstein nennt, setzt. Anwendungsfälle zu finden, damit haben die Studierenden und Experten der HRW kein Problem. Bei der Lösung darf auch ältere Technik helfen. Wenn es an einem Montageplatz klemmt, muss schnell ein Techniker ran und für Abhilfe sorgen. Früher ging das auf Zuruf, der Mitarbeiter musste den Techniker suchen und holen. „Dann haben wir es mit dem Handy probiert, das klingelt aber so oft, dass die Techniker nicht schnell genug dran gingen“, sagt Hausler. Auch über den Einsatz von Smartwatches hat Hauslers Team nachgedacht. Aber: damit die synchron mit dem Firmen-System laufen, hätte IFM den Smartphone-Herstellern Zugriff auf das Firmen-System erlauben müssen, und da sehen die IT-Sicherheitsexperten rot. Die Lösung ist viel einfacher. IFM setzt Pager, auch „Funkmeldeempfänger“ genannt, ein. Statt wie früher in der Schwarzwaldklinik „Professor Brinkmann, bitte in den OP“, heißt es in Tettnang heute: „Techniker bitte zu Arbeitsplatz xy, die Löteinrichtung ist kaputt.“ Das Wichtigste bei der Digitalisierung und deren Umsetzung sei eine offene Kommunikation mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, betont Hausler. Zehn Fachleute kümmern sich bei IFM momentan um die Digitalisierung der Produktion, in der rund 4000 Beschäftigte arbeiten, nicht nur in Tettnang, sondern auch in den Werken in Rumänien und Singapur. Besonders der Standort Tettnang profitiert davon. Vor ein paar Jahren war noch die Rede vom Rückbau der Produktion, mittlerweile wird investiert, auch in neue Produktionsanlagen.